Freitag, 8. Mai 2009

"Hallo Mama" ...

... murmelt die Sunnesanne. Leise spricht sie, mit hochgezogenen Schultern und Händen in den Hosentaschen. Ihr ist mehr als nur unbehaglich. Es ist niemand zu sehen, aber sie fühlt sich beobachtet und belauscht. Hunderte Augenpaare fühlt sie auf sich gerichtet - wertend, prüfend und gelangweilt von der Ewigkeit die schon hinter ihnen und noch vor ihnen liegt.

"'tschuldige, war lange nicht hier" spricht die Sunnesanne weiter und schweigt dann. "Ja, es wird Zeit mein Fräulein" hört sie die Antwort in ihrem Kopf und blickt dabei in verärgerte Augen deren Farbe so undefinierbar ist wie die der eigenen. Die linke Augenbraue und den Mundwinkel vorwurfsvoll nach oben gezogen und die Hände in die üppigen Hüfte gestemmt, steht sie da.

Schon über sieben Jahre ist es her, dass die Sunnesanne hier zum ersten Mal stand, seit dem ist so viel passiert, aber die Bilder von ihr sind immer noch klar und ihre Stimme ist so deutlich zu hören, als säße sie auf der Bank da drüben unter der Birke. Auch diesen enttäuschten und gleichzeitig liebevollen Blick kann die Sunnesanne nie vergessen, noch heute spürt sie ihn bis ganz tief in ihren Bauch und mehr denn je ist er Maßstab für alles was sie tut. So oft fragt sie sich 'Was hätte sie wohl dazu gesagt?' und oft ist sie sich ganz sicher es zu wissen, aber manchmal hat sie auch keinen blassen Schimmer - ein Leben lang gekannt und doch in vielen Dingen so fremd. Die Zeit zusammen war einfach zu kurz und oft auch zu schwierig - viel Streit, viele Vorwürfe, viele Lügen - vielleicht war es aber auch gar nicht schwieriger als in anderen Beziehungen zwischen Müttern mit ihren pupertierenden Töchtern, aber die Zeit danach, wenn beide erkennen wie ähnlich sie sich sind und anfangen die andere endlich zu verstehen - diese Zeit hat ihnen gefehlt. Jetzt steht die Sunnesanne da, immer noch voller Schuldgefühle und mit einem dicken Kloss im Hals.

Sie hat Blumen mitgebracht - wie immer. "Schöne Blumen, ich mag weiße Lilien" hört sie sie sagen "Ich weiß" antwortet die Sunnesanne. Dann setzt sie sich auf die Bank unter der Birke und schweigt. Die Sunnesanne muss nicht erzählen was in den letzten Monaten passiert ist, sie ist sowieso immer da. Letztlich ist sie der Dreh und Angelpunkt für fast alles was die Sunnesanne tut, entweder weil sie es ihr so beigebracht hat, weil sie es so gemocht hätte oder weil die Sunnesanne Angst davor hat selbst auch so wenig Zeit zu haben wie sie. Der Gedanke vielleicht auch so früh wie sie über das eigene vergangene Leben richten zu müssen weil es kein zukünftiges mehr gibt, läßt die Sunnesanne oft ihr Leben hinterfragen - keine Halbheiten, keine Zweifel, kein Dahinplätschern ist die Devise - das schaft sie nicht immer. Absolut und immer ehrlich mit sich und anderen zu sein ist manchmal so schwer. Aber sie versucht es, jeden Tag aufs neue und eins fühlt sie dabei ganz genau, sie ist nie mutterseelenallein.

Ungewöhnlich lange hält es die Sunnesanne heute aus, auf der Bank unter der Birke mit dem Blick auf den weißen Marmorstein mit der eingemeißelten Rose. Irgendwann steht sie auf, läuft noch einmal die Reihe entlang und läßt ihren Blick über die Gräber schweifen. "Mach's gut, denk mal an mich" hört sie sie sagen "Immer!" flüstert die Sunnesanne "Immer!"

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